Wednesday, June 17, 2015

Damit Ihr klug werdet – Expertise bei Wikipedia

Gastbeitrag von Serten (leicht überarbeitet und formatiert)


Serten bat mich diesen Beitrag über Wikipedia zu posten. Der Autor hat intensive Erfahrung mit Wikipedia und seine Beobachtungen, verbunden mit einer Buchrezension zum Thema, sind sehr aufschlussreich.

Damit Ihr klug werdet – Expertise bei Wikipedia

Alex Harvey hatte sich vor Jahren bei der Klimazwiebel zu den Climate Wars bei der englischsprachigen Wikipedia geäußert. Stil und Argumentation in der deutschen und englischsprachigen WP unterscheiden sich deutlich. Sie haben mit einem unterschiedlichen  anderen Umgang mit Expertise und Fachwissen zu tun. Das stelle ich im Überblick vor und gehe auf die ein oder andere auch klimaspezifische Frage gesondert ein.  

WP als Aussagebildung
Nathanial Tkacz: Wikipedia and the Politics of Openness (University of Chicago Press, 2015)  skizziert wichtige Aspekte der Entstehung und Entwicklung der Online Enzyklopädie  und beschäftigt sich mit deren Autoren, Automatismen, Bürokraten und Weichenstellungen.

Tkacz charakterisiert Wikipedia als Aussagenbildner (statement formation). Als zentrale interne Statements unterscheidet er
* NPOV, dem neutralen Standpunkt . NPOV ist die Betrachtung eines Themas aus der Sicht wertiger Quellen, sie ist nicht die Suche nach „einer Wahrheit“
* WP:Belege, der Forderung, Aussagen mit wertigen Quellen zu belegen. Bei der enWP wird WP:Belege so ausgelegt, daß für einen WP-Artikel herangezogene Quellen grundsätzlich verlässlich und für das Thema einschlägig sein müssen. Die deWP legt generell hingegen den Fokus auf wissenschaftliche, insbesondere geschichtswissenschaftliche Quellen.
* KTF (keine Theoriefindung, sprich WP gibt Forschung wieder, forscht aber nicht selbst)  

Tkacz nennt die sogenannten Forks –Verzweigungen - als wesentlich für die Open Source Bewegung allgemein wie auch speziell bei der Wikipedia. Forks sind Aufspaltungen von Softwareprojekten in zwei oder mehrere Folgeprojekte; die Quelltexte oder Teile davon werden hierbei unabhängig vom ursprünglichen Mutterprojekt weiterentwickelt. Auch intern spielen Themenforks, die Unterbringung von strittigen Inhalten bei neuen oder alternativen Artikeln oder Artikelabschnitten einen wichtigen Konfliktlösungsmechanismus wie auch eine Ursache von Kontroversen dar.

Vorgeschichte und erste Forks
Der WP-Gründer Wales (und sein Mitarbeiter Sanger) hatten in der Frühzeit mit dem Projekt Nupedia versucht, eine Onlineenzyklopädie auf einer geschlossenen Plattform durch anerkannten Experten erstellen zu lassen. Die heutige Wikipedia enstand aus dem als Versuchsballon gedachten Ansatz, ein Onlinelexikon von Freiwilligen ohne Zugriffsrestriktionen erstellen zu lassen. In dem Sinne war bereits die erste WP ein weitgehender Fork. Die Wikipedia wird gerne, auch bei Tkazc, als Teil der Open Source Bewegung mit Transparenz und Offenheit verbunden und etwa der Open Government Initiative Barack Obamas oder dem Begriff der offenen Gesellschaft nach Popper positiv verknüpft. Bei dieser Form der Außendarstellung wird u.a. die bei Reagle (2010) detailliert ausgearbeitete These von der Prägung des Gründers Wales durch den Objektivismus Ayn Rands und die österreichische Schule Friedrich von Hayeks  unter den Tisch fallen gelassen. Tkazc ringt sich erst zum Ende seines Buchs durch, Wikipedia wie die Open Source-Bewegung als auch neoliberale Projekte zu charakterisieren. Die frühe Abspaltung eines Forks der spanischen WP aus Protest gegen geplante Werbeeinblendungen blieb nicht lange erfolgreich, setzte aber die Werbefreiheit der WP gegen den Willen der Gründer durch.

Experten?
Artikel wie Relativät (bzw. Raumzeit) wurde in der Britannica der 1920er Jahre noch von James Jeans und  Albert Einstein verfasst. In der WP sind das Amateure, vom Studenten, Hobbyschreiber bis zum Silver Surfer, denen eigene Forschung / Theoriefindung versagt bleibt. Wesentliche Anteile werden von wenigen hundert sehr aktiven Autoren erstellt und gepflegt. Autoren können sich fachlich mit lesenswerten oder exzellenten Artikeln profilieren, diese Artikel werden in einem komplexen Review und Auswahlverfahren ausgewählt. Die Kaste der Bürokraten der Wikipedia, Wikipedia- Autoren mit erweiterten Rechten, sind nicht fachlich zugeordnet. Die größte Gruppe sind die sogenannten Administratoren, die eine Polizei- und Schiedsrichterfunktion haben. Diese Gruppe wurde in der Anfangszeit quasi auf Zuruf und dauerhaft ernannt, mittlerweile sind Abwahlen möglich.
Informell rekrutiert sich das faktische, auch inhaltlich tonangebende Führungspersonal aus dem Kreis von über regionale Stammtische oder den Verein Wikimedia gut vernetzten, langjährig tätige Autoren. Die WP zieht sich einen eigenen Typus von Experten und Expertise heran, der nicht unbedingt fachspezifisch ist.


Fehlende redaktionelle Expertise?
Die Wikipedia hat keine Lemmaselektion. Es existiert keine umfassende Liste der vorgesehenen Lexikonartikel (Lemmata), sondern Relevanzkriterien, mit denen neuerschienene oder etablierte Artikel im Falle eines Löschantrags oder bei Redundanzen geprüft werden. Ebenso gibt es keine Fachredaktionen wie bei gedruckten Lexika - allenfalls sogenannte Themenportale, bei denen interessierte Autoren nicht nur die Artikel in ihrem Bereich pflegen und kategorisieren, sondern auch im Sinne von Tkacz Statementbildung eigenständige und in dem Themenbereich anerkannte Vorgaben, Kriterien und Formate zu ihrem Themenbereich entwickeln. Die WP hat, wie die meisten Netzweltthemen, einen Frauenmangel, weniger thematisiert wird der Handwerkermangel. Handwerklich beschlagene Ausnahmen wie ein beim Portal Essen und Trinken und den zugehörigen Kategorien und Vorlagen aktiver Koch wie ein in seinem Feld langjährig aktiver Kürschner bestätigen die Regel einer gewissen Akademikerlastigkeit.
Die mangelnde redaktionelle Betreuung der WP führt dazu, daß Überblicksartikel, die zumeist sehr früh entstanden sind, oft in einem schlechteren Zustand sind als Detailartikel. Glaziologie etwa erscheint deutlich amateurhafter als die lesenswerte Gletscherdynamik. Die WP fördert die (temporäre) Einzelleistung, ist aber gerade bei der thematischen Vernetzung und Abstimmung von Themenfeldern über längere Zeiträume eher schwach.

Ond öwög störbön dö Wöldur  - Kontroversen?
Bei Holznot ist eine heftige umwelthistorische Forschungskontroverse dargestellt, ohne daß diese beim Ausbau der Artikel irgendein Hindernis dargestellt hätte. Beim Waldsterben waren nun die Ergebnisse des mit Und ewig sterben die Wälder larmoyant untertitelten Freiburger Sonderforschungsbereich zum Waldsterben grad bei Umweltaktivisten nicht gerne gesehen, wurden aber – da richtige Forschung - zähneknirschend akzeptiert. Es gibt ebenso Kontroversen, etwa den sogenannten Kreuzesstreit oder die Donauturmkontroverse in der deutschen WP, die kaum gesellschaftlichen Widerhall haben, aber WP-intern erhebliche Tragweite haben.
Beim Kreuzesstreit geht es um die sogenannten genealogischen Zeichen. Mit Kreuz und Stern nach DIN 5001 werden nach wie vor die meisten biographischen Artikel eingeleitet, was intern auf teilweise erbitterten Widerstand einiger sehr aktiver Autoren traf. Ein Schriftsteller und langjähriger Mitarbeiter der deWP wurde nun in der deWP wegen Verstößen gegen die Urheberrechtsvorgaben gesperrt. Er hatte einen eigenen Fork angelegt, das sogenannte jewiki zu jüdischen Themen. Den nach wie vor virulenten Kreuzesstreit verwendete er zur Propagierung seines eigenen Projekts, WP-Autoren mit Doppelfunktion bei deWP und jewiki waren und sind zwischenzeitlich Sanktionen ausgesetzt.
Der Wiener Donauturm schaut zwar dem Stuttgarter Fernsehturm ähnlich, wurde aber als reiner Aussichtsturm geplant. Die Kategorisierung als Fernsehturm in der deWP führte zu einer Kontroverse über ganze Bildschirmmeter, die sogar im Nachrichtenmagazin Spiegel abgebildet wurde. Hintergrund waren auch Konflikte zwischen deutschen (schwäbischen)  und österreichischen Autoren.

Klimathemen
Was heisst das nun fürs Klima? Es gibt eine Reihe von Artikeln zu einzelnen IPCC Berichten und dem IPCC selbst. Man findet eine presselastige Darstellung von Climategate wie eine naturwissenschaftlich dominierte Darstellung der Kontroverse um die Globale Klimaerwärmung. Es gibt keine detaillierte soziologisch fundierte Darstellung des IPCC Konsensprozesses. Die mittlerweile auch bei Nature (e.g. David Victor 2015, doi:10.1038/520027a) thematisierte Forderung nach Einbindung der sozialwissenschaftlichen Kontroversen in dieDiskussion um den Klimawandel wird ignoriert. Ebenso bleibt der Vergleich der transatlantischen Umweltpolitiken eher ein Nischenthema.
Die Klimaartikel sind insgesamt auf einem Stand vor 2009. Die damalige Krise der Klimapolitik ist nach wie vor nicht angekommen. Weder die Änderungen in der Ausrichtung des IPCC nach dem Review des IPCC 2010 (durch den IAP), der Brian Wynnes Unsicherheiten stärker in den Fokus stellte, noch die Zweifel an der politisch-wirtschaftlichen Aussagekraft von Klimamodellen   (vgl. Saltelli et al , "Climate Models as Economic Guides: Scientific Challenge or Quixotic Quest?" 2015) werden WP-intern breiter akzeptiert und verwendet. Die gesamte umweltgeschichtliche Literatur wird wenig rezipiert. STS oder Wissenschaftsforschung sind kaum vorhanden. Es gibt dafür einen sachbuchbasierten  Überblick zur naturwissenschaftlichen Forschungsgeschichte des Klimawandels und einen halbwegs tauglichen, aber veralteten Artikel zur Klimapolitik. Der populäre Gore-Effekt war in der enWP mehrmals gelöscht worden. In der deWP wurde das Lemma einmal mit einem Löschantrag belegt und dann dauerhaft bestätigt, was bei der enWP mit zum abschließenden Behalten beitrug.

Fazit
Wikipedia galt als und ist ein Produkt auch der deutschen Netzkultur. Sie steht dieser selbst misstrauisch gegenüber. Onlinequellen sind im Jargon pöhse, ebenso automatisch erstellte Bot-Artikel. Besonders anerkannt sind im Sprachraum Gutenbergs Artikel, die auf gedruckten (geschichtswissenschaftlichen) Büchern basieren. Blogger wie Fefe führen deswegen Wikipedia mittlerweile auch als Teil des Problems und des Establishments auf. Tatsächlich ermöglicht die WP durchaus auch (intern wie extern) umstrittene Positionen zu dokumentieren, nur eben nicht sofort in den Basisartikeln. Bei entsprechend unerquicklichen Diskussionen daselbst gilt es sich nicht lange aufzuhalten, sondern eine separate Artikelbasis zu erstellen. Bei Artikeln zu Kontroversen tut es diesen meistens gut, wenn die Kontroversen selbst nicht innerhalb der WP wirksam sind.

In dem Sinne erlaubt die Schwäche der WP – die mangelnde redaktionelle Überwachung, der Fokus auf die Einzelartikel, die starke Rolle von Einzelautoren, die divergierenden Einzelprojekte  – auch den Ausbau wie die Profilierung mit und bei nicht oder noch nicht im Onlinelexikon etablierten Themen und Aspekten. Die tatsächlich vorhandenen Schwächen braucht und sollte man nicht in Abrede stellen, aber die WP ist nach wie vor flexibel und adaptionsfähig – die Voraussetzung ist aktive Mitarbeit auch gerade bei Nischenthemen.

5 comments:

Hans Erren said...

Bei Wikipedia immer auch die diskusionsseite lesen! Bei kontroversielle Themen ist die Diskussionsseite länger als die Themaseite.

Anonymous said...

Es gab in der deWP eine lange Kontroverse zu diesen Artikeln.

Im Jahr 2009 hatten die Kritiker irgendwann einfach keine Luste mehr auf Endlosdiskussionen mir argumentationsresistenen Umweltaktivisten mit großem Zeitbudget.

Anonymous said...

@Serten

ich finde interessant, dass gerade die deWP ein Grenzfall zwischen Onlineinformationskultur und klassischer Wissensvermittlung und -produktion ist. Es wird nicht 100%ig auf Webquellen vertraut. Was durchaus gar kein so ein schlechter Ansatz für eine Enzyklopädie!!! (man sollte sich noch mal die Definition durch den Kopf gehen lassen) war. Es gibt im Internet wunderbare Informationen zu jedem Thema, aber auch sehr viel Mist, Gerüchte, Hetze, und eine extreme Empörungskultur (leider macht auch ein Hans von Storch da mit.) Wer soll da entscheiden, was gut ist? Der Rückzug auf klassische Medien ist der einfache Weg. Vielleicht aber auch der falsche.

Meine Frage: gibt es dazu Arbeiten, die diesen Übergang zwischen klassischer Wissensvermittlung und Onlinewissensvermittlung (Blogs, Wikies, Social Media, usw.) in der Wiki betrachtet? Oder ist das eine völlig falsche Idee?

Best, GHB

PS: die Kommentare #1 und #2 sind einfach nur schlecht. Der zweite Kommentar ist dazu beleidigend. Bezeichnend, dass Hans von Storch das nicht moderiert. Kennt man ja, werden die "Richtigen" angepöbelt, freut sich von Storch.


Anonymous said...

# 3 „Bezeichnend, dass Hans von Storch das nicht moderiert..“

Warum soll etwas Wahres moderiert oder zensiert werden. Bei Wikipedia haben beim Thema Klima Aktivisten die Deutungshoheit. Als ich mich dort beim Thema Klima einbringen wollte, bekam ich von einem Hauptautor direkt folgende Kursempfehlung:
https://www.futurelearn.com/courses/climate-change-challenges-and-solutions

Der Leiter des Kurses heißt Tim Lenton und ist Anhänger der Gaia-Hypothese.
https://en.wikipedia.org/wiki/Tim_Lenton

Nicht nur an dieser Empfehlung merkte ich, dass ich es u.a. mit Anhängern der Gaia-Hypothese zu tun hatte, die ein ausgesprochenes negatives Bild vom Menschen besitzen. Ein Hauptuser mit großem Zeitbudget ist nach meinen Informationen eine Mitarbeiterin des IASS in Potsdam, ein weiterer arbeitet beim PIK. Was eigentlich o.k. ist, Wissenschaftler sind ausdrücklich erwünscht. Aber die Artikel sind tendenziell einseitig, ein Artikel (Liste klimaskeptischer Organisationen und Personen) musste nach heftigen Protesten richtigerweise gelöscht werden. Auch wird dort teilweise Personenkult betrieben, Schellnhuber, Rahmstorf, Mann usw. Ich wollte z.B. im Artikel „Michael E. Mann“ den „Hackerzwischenfall“ thematisieren. Es war schließlich ein einschneidendes Ereignis im Leben des Wissenschaftlers. Einfach mal den Diskussionsverlauf im Kapitel „Hackerzwischenfall“lesen. Immer das gleiche Schema, schlägt ein Außenstehender etwas vor, tritt diese Gruppe im Rudel auf, stimmen untereinander ab und drängen so den Außenstehenden aus der Diskussion.
https://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Michael_E._Mann

Anonymous said...

@GHB: Die Kluft nehme ich war, kann sie aber nicht extern belegen. Die Aussagen zu HvS finde ich nicht angemessen.

@Anonymous: Bei Rahmstorf wurde unter anderem dessen gerichtliche Auseinandersetzung mit einer bekannten "grünen" kölner Journalistin und dem Verband WPK von - ich sags mal - Verehrern gelöscht, ebenso Druck auf das Lemma Markus Lehmkuhl (der verantwortliche WPK Redakteur) gemacht. Das war schon extrem.
Ansonsten finden sich nur wenig "seriöse" Skeptiker bzw. Lukewarmer in der WP, es gibt bei der deWP eine Handvoll länger aktive Klimaaktivisten und gelegentlich skeptische Zaungäste (oft von EIKE-Blogeinträgen motiviert), die ich zumeist (wenn ich das denn lese) als sehr extrem und verschwörungstheoretisch in ihren Ansichten empfinde. Wie gesagt, mit Online und Blogs braucht man in der WP nicht kommen.
Michael Mann: Nicht mit ein paar Onlineartikeln und schon gar nicht als neuling. Mit richtigen Büchern oder gar Forschung kann man sich profilieren, aber nicht im Personenartikel Mann, sondern eher beim derzeit sehr presselastigen Hackerzwischenfall oder bei erstmal konfliktfreieren Themen. Gruß Serten